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"Sehr geehrte Damen und Herren Gemeinderäte,

wie ich der Lokalpresse entnehmen konnte, liegt Ihnen mittlerweile das im Auftrag der Stadt Freiburg von der Firma con_sens erstellte Gutachten „Zukünftige Konzeption der Quartiersarbeit der Stadt Freiburg im Breisgau“ vor.

Die Katholische Hochschule Freiburg bildet Fachkräfte Sozialer Arbeit aus und kooperiert dabei sehr intensiv mit den entsprechenden lokalen Akteuren und Praxispartnern, um für die Studierenden den Transfer zwischen Theorie und Praxis zu ermöglichen. Ich bin an der Katholischen Hochschule Freiburg seit 2007 als Professor für die Themen soziale Stadt- und Quartierentwicklung tätig und darf daher für mich in Anspruch nehmen, die einschlägige Freiburger Situation durchaus zu kennen.  Bereits im September 2015 hatte ich der Verwaltungsspitze die Expertise unserer Hochschule zur Erstellung des vom Gemeinderat in einem interfraktionellen Antrag angeforderten Gutachtens zur Quartierarbeit in Freiburg angeboten. Vom ersten Bürgermeister Neideck erhielt ich am 30.10.2015 die Antwort, man habe den Auftrag u.a. aus Synergiegründen an die Firma con_sens vergeben, werde jedoch die Expertise der KH Freiburg gerne „in die das Gutachten begleitende Gremienarbeit einbeziehen“. Umso verwunderlicher ist, dass seitens der Verwaltungsspitze seither weder eine Einladung zur Mitwirkung zu „begleitender Gremienarbeit“ erfolgte, noch das aktuelle Gutachten zugänglich gemacht wurde. Zu den Inhalten des fraglichen Gutachtens kann ich daher leider keine konkreten Aussagen treffen. Die der Presse1 zu entnehmenden Aussagen und Empfehlungen sind sehr kritisch und auch mit Sorge zu betrachten.



So wird der Eindruck erweckt, die fachliche Arbeit vor Ort wäre beliebig, konzeptlos und ineffektiv. Dies entspricht keineswegs unseren Erfahrungen in der kooperativen Arbeit mit den diversen Praxispartnern. So waren es gerade die Fachkräfte der Quartierarbeit, die in den letzten Jahren immer wieder klare und verlässliche Rahmenbedingungen seitens der Stadt anmahnten und letztlich auf Grund fehlender kommunaler fachlicher Standards, mit Unterstützung der KH Freiburg und auf der Basis wissenschaftlicher Grundlagen, Qualitätsstandards entwickelten, die der Stadtverwaltung vorgelegt wurden.  An unserer Hochschule wurden bereits zum OB-Wahlkampf 2010 „Kommunalpolitische Wahlprüfsteine“ entwickelt, die auf der Basis der Leipzig Charta der EU2 auf wesentliche Erfordernisse sozialer Stadt- und Quartierentwicklung hinwiesen und der Stadtverwaltung die Verbesserung der quartierübergreifenden Koordination sowie ein Monitoring für alle Stadtteile und Quartiere empfahlen. Diese Wahlprüfsteine wurden allen damaligen OB-Kandidaten zugeschickt und von diesen auch beantwortet.  Im Rahmen der Mitwirkung der KH Freiburg am Nachhaltigkeitsprozess der Stadt Freiburg wurden Empfehlungen zur flächendeckenden Quartierskoordination sowie zur Schaffung von Anlaufstellen formuliert. In der Publikation von Becker (2014)3 werden Empfehlungen zur Schaffung von Beteiligungsgremien auf Quartiersebene sowie zur Implementierung von Quartierbeiräten und der Einrichtung von Quartierbudgets zur selbstverantwortlichen Verwendung vor Ort gegeben, die auch und gerade für Freiburg passend wären. Es gab und gibt also zahlreiche Hinweise und Anregungen fachlicher Art, zur Entwicklung der Quartierarbeit in Freiburg.

Aufmerksamen Beobachtern der Freiburger Situation dürfte nicht entgangen sein, dass es seitens der Verwaltungsspitze in den letzten Jahrzehnten keine konsistente Linie in Sachen Quartierentwicklung und Gemeinwesenarbeit gab. Bedingt durch vergleichsweise häufige Wechsel von Amtsleitungen sowie die Trennung des zu Dr. Mehls Zeiten renommierten Freiburger Jugend- und Sozialamtes, haben möglicherweise nicht nur innerhalb der Stadtverwaltung für Verwirrungen gesorgt, sondern auch bei den im städtischen Auftrag tätigen freien Trägern zu Unsicherheit geführt. Wenn jetzt der Eindruck entstünde, sowohl die freien Träger als auch die Fachkräfte der Quartierarbeit hätten nur Wildwuchs angerichtet, besteht die Gefahr, dass hier wertvolles Porzellan zerschlagen wird, das nicht mehr ersetzbar sein wird. Aus fachlicher Perspektive betrachtet, bedarf es in Freiburg endlich eines klaren Konzeptes kommunaler Quartierentwicklung, mit besonderem Fokus auf der ressortübergreifenden Koordination innerhalb der Stadtverwaltung und einer gesamtstädtischen Perspektive auf alle Stadtteile und Quartiere. Auf dieser Grundlage müsste, mittels regelmäßiger Erhebungen, ein stadtweites Monitoring aller Stadtteile und Quartiere erfolgen, um die Datenbasis für erforderliche Grundinfrastruktur und besondere Entwicklungsbedarfe, zu liefern. 
  
Verlässliche und dauerhaft vorhandene Ansprechpartner in allen Quartieren, sind nötig um die steigenden Bedarfe vorbeugender Aushandlungsprozesse unterschiedlicher Interessen und eine integrierte Stadt(teil)-/Quartierentwicklung managen können. Die den o.g. Pressemitteilungen zu entnehmende ausschließliche Problemorientierung mittels Ausrichtung an Sozialindikatoren, greift zu kurz und widerspricht den fachlichen und politischen Erkenntnissen, die u.a. in der o.g. Leipzig Charta der EU deutlich benannt sind. Gerade die erfolgreiche präventive Quartierarbeit in Rieselfeld und Vauban zeigen exemplarisch, dass mit professionellen Ansprechpartnern vor Ort und einem passenden Konzept, bürgerschaftliches Engagement ermöglicht, gefördert und verbreitert sowie die Eskalation sozialer Probleme vermieden werden kann.  Die Einbindung freier Träger in das System der Leistungserbringung Sozialer Arbeit entspricht dem Subsidiaritätsprinzip und hat in und für Freiburg einen geradezu profilprägenden Charakter. In vielen Handlungsfeldern Sozialer Arbeit (z.B. Jugendhilfe, Suchthilfe, Wohnungslosenhilfe, Schulsozialarbeit, etc. ) leisten freie Träger in Freiburg wertvolle und erfolgreiche Arbeit. Ob die Entbindung der freien Träger aus der Quartierarbeit das Mittel der Wahl ist, darf daher bezweifelt werden, denn dass die Unabhängigkeit der Quartierarbeiter(innen) als Ansprechpartner der Bevölkerung vor Ort gewährleistet werden kann, wenn diese als städtische Mitarbeiter(innen) der Loyalität zu ihrem Arbeitgeber verpflichtet sind, scheint nicht realitätsnah.  Die Vorlage des offenbar vorhandenen Gutachtens eröffnet jedenfalls die Chance für alle Beteiligten, über die Ziele und Mittel der Quartierarbeit in Freiburg gründlich und unter Einbezug aller lokalen Akteure und Aspekte nach zu denken.


In diesem Sinne wünsche ich Ihnen hilfreiche Debatten und am Ende gute Entscheidungen!


Freundliche Grüße    
Prof. Dr. phil. Martin Becker  
Professor für Handlungskonzepte und Methoden Sozialer Arbeit
mit Schwerpunkt auf Stadt- / Quartierentwicklung
sowie empirische Sozialforschung

1 Pressemitteilung der Stadt Freiburg vom 14. September 2016; BZ-Artikel „Quartiersarbeit vor radikaler Wende?“ vom 15. September 2016.

2 Leipzig Charta zur nachhaltigen europäischen Stadt. Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (Hrsg.). Berlin 2007. 3 Becker, Martin (2014): Soziale Stadtentwicklung und Gemeinwesenarbeit in der Sozialen Arbeit. Stuttgart: Kohlhammer.

3 Becker, Martin (2014): Soziale Stadtentwicklung und Gemeinwesenarbeit in der Sozialen Arbeit. Stuttgart: Kohlhammer.

 siehe auch Quartiersarbeit